Leseprobe
Es war nicht Berlin. Es war nicht einmal Hamburg oder München. Es war einfach nur Heidelberg. Über den Hamburger Hafen war zu Beginn der Sechzigerjahre mit den Beatles die englische Beatmusik nach Westdeutschland gekommen. In Berlin hatte sich 1961 der Präsident der Vereinigten Staaten von Amerika, John F. Kennedy, zum Bürger der Stadt erklärt. Im Big Apple Club in München zerschmetterte Jimi Hendrix 1966 zum ersten Mal eine Gitarre. Künstlerinnen und Künstler, Intellektuelle und politisch Engagierte aus den USA reisten nach Westdeutschland und prägten das kulturelle Leben mit. Als sich der US-amerikanische Schriftsteller William S. Burroughs am Abend des 6.?Juni 1966 auf den Weg zum Studenten der Amerikanistik, Carl Weissner, machte, war er durch keine dieser Großstädte gelaufen. Wahrscheinlich war er stattdessen durch die eine oder andere winklige Gasse im Heidelberger Norden gegangen, bevor er vor dem Haus in der Mühltalstraße 1–3a stand, wo Weissner in einem winzigen Apartment wohnte. Burroughs kam gerade aus Paris und war in einem Hotel einige Straßen weiter abgestiegen. Mit schwarzem Anzug, schwarzer Krawatte und schwarzem Hut habe er im Flur des Mietshauses vor ihm gestanden, beschreibt Carl Weissner die Szene in einem Brief an Victor Bockris. Den Abend verbrachten die beiden – der hagere Amerikaner um die fünfzig und der halb so alte Weissner – wohl damit, sich gegenseitig Tapes vorzuspielen und Aufnahmen mit dem Rekorder zu machen. Gegen halb zwei Uhr am Morgen sei Burroughs mit dem Taxi zurück ins Hotel gefahren.
Die Begegnung des Pioniers der Cut-up-Technik, der zu diesem Zeitpunkt bereits ein mythenumrankter Schriftsteller war, mit dem späteren Übersetzer und Literaturagenten, der wenige Monate danach für zwei Jahre in den USA leben würde, ist rückblickend ein typischer Moment der deutschen Beat- und Undergroundliteratur. In kleinen deutschen Städten, in engen Studentenzimmern und im direkten Austausch bildete sich die Grundlage einer Literatur, die sich an den US-amerikanischen Vorbildern der Beatund Undergroundliteratur orientierte. Jörg Fauser, der nicht nur in Burroughs eine literarische Leitfigur sah, sondern letztlich seinen eigenen Stil in Anlehnung an Charles Bukowski fand, tat seine ersten literarischen Schritte ebenfalls in Heidelberg, in einem kleinen Krankenhaus im Stadtteil Rohrbach. Sein erster Roman »Tophane« erschien 1972 im Augsburger Indie-Verlag Maro und der erste deutsche Cut-up-Roman »Cola-Hinterland« des Piloten Jürgen Ploog drei Jahre zuvor im Darmstädter Melzer Verlag – alles weit weg von der großen Verlags- und Literaturwelt, die Ploog einmal einen »Tummelplatz übergeschnappter Idioten« nannte. Carl Weissner betrieb von seiner Heidelberger Studentenbude aus die Literaturzeitschrift »Klactoveedsesteen« und kam dadurch in Kontakt mit Charles Bukowski und anderen US-amerikanischen Schriftstellern und Schriftstellerinnen, unter anderem mit Burroughs und Mary Beach. Die deutsche Beat- und Undergroundliteratur zeigte sich als Nebenfluss der westdeutschen Literatur in den ersten Jahrzehnten nach dem Zweiten Weltkrieg. Und von heute aus gesehen, wäre die deutsche Popliteratur ohne sie nicht denkbar gewesen. Einer ihrer Repräsentanten, Jörg Fauser, avancierte seit seinem frühen Tod im Jahr 1987 über die letzten Jahrzehnte zu einem geliebten enfant ter rible des deutschen Feuilletons. All das kann aber nicht verdecken, dass sich die deutsche Literaturkritik und der literarische Betrieb in der Hochphase der deutschen Beat- und Undergroundliteratur nicht für diese Strömung interessierten. Im Gegenteil, wenn man überhaupt von ihr wusste, ignorierte man sie weitgehend. Die Literatur der ersten zwanzig Jahre nach Kriegsende war in der Bundesrepublik vorrangig bestimmt von dem Versuch der kulturellen Wiedergutmachung und der ideologischen Abnabelung von den Verbrechen der Nazi-Zeit. Literatur hatte in diesen Jahren, glaubt man Hans Magnus Enzensberger, eine »Entlastungs- und Ersatzfunktion«. Sie sollte als gesellschaftspolitisches Werkzeug der Aufarbeitung und der Neuorientierung dienen. Damals zeugten davon Romane bundesrepublikanischer Autoren, die bis heute als Paradebeispiele für die Nachkriegsliteratur gelten, wie Günter Grass’ »Die Blechtrommel«, Siegfried Lenz’ »Deutschstunde« oder Heinrich Bölls »Billard um halb zehn«. Sie alle verbindet die Suche nach den Möglichkeiten einer deutschen Identität nach dem Nationalsozialismus und sie verstehen sich gleichzeitig als politisch engagiert, als mahnend und belehrend – ihnen ist ihr Zweck und die beabsichtigte Wirkung in jede Zeile eingeschrieben. Auf Seiten der Lyrik lässt sich in diesen Jahren eine Fokussierung auf Innerlichkeit ausmachen, ein sich Verkriechen in das eigene Innere und ein Ausloten der eigenen Position im Gefüge der Welt nach Zerstörung und der Shoa. Diese kulturelle Herkulesaufgabe sollte die deutsche Kultur und das deutsche Gewissen zwar entlasten, für die Literatur jedoch stellte sie letztlich eine Überlastung dar. Das will Hans Magnus Enzensberger 1968 in seinem legendären »Gemeinplätze«-Essay im »Kursbuch 15« festgestellt haben, »das Sterbeglöcklein für die Literatur« habe er gehört – heute ist in diesem Kontext meist die Rede vom Tod der Literatur. Jörg Fauser fand die Literatur dieser Jahre einfach nur »zum Gähnen langweilig« und lebensfern. Damit gehörte er zu jenen umtriebigen, literaturbegeisterten jungen Männern, die ihre kulturelle Adoleszenz ganz im Zeichen US-amerikanischer Populärkultur erlebten. Die USA waren in diesen Jahren nicht nur als Besatzungsmacht und Beschützer sondern auch als kultureller Einfluss omnipräsent in der Bundesrepublik: US-amerikanische Filme, Musik und Konsumgüter – allen voran Coca Cola und Zigaretten – prägten das kulturelle Leben und den Lifestyle. Fauser und andere waren im Verlauf dieser transatlantischen Kulturerfahrungen auch auf die Romane und Gedichte der Beatliteratur und die raue Schreibweise des literarischen Undergrounds gestoßen.
Bevor Fauser aber Ende der Sechzigerjahre in einer Dachwohnung in Göttingen an seinem ersten an Burroughs angelehnten Roman arbeitete und Weissner mit der Beat-Szene im New Yorker East Village feierte, fand die US-amerikanische Beat- und Undergroundliteratur durchaus den üblichen Weg in die deutschen Buchhandlungen. Bereits 1959 war der Klassiker der Beatliteratur und ihr inoffizielles Gründungsdokument, Jack Kerouacs »On The Road«, in deutscher Übersetzung als »Unterwegs« bei Rowohlt erschienen. Kurze Zeit später kamen auch weitere relevante Werke dieser literarischen Strömung in der Bundesrepublik an, namentlich Allen Ginsbergs »Howl« und Burroughs »Naked Lunch« im Limes Verlag sowie eine Anthologie von Karl O. Paetel bei Rowohlt, die eine Vielzahl von Autorinnen und Autoren versammelte. Von einem deutschsprachigen Pendant konnte jedoch zur damaligen Zeit noch keine Rede sein. Typisch für den Umgang mit dieser Literatur in der westdeutschen Republik war eine Rezeption in zwei Richtungen. Als mit »On The Road« die erste eigenständige Publikation der amerikanischen Beatliteratur in deutscher Sprache erschien, nannte Günter Blöcker die Autoren der Beat Generation in einer der ersten Rezensionen in der FAZ »Eichendorffsche Taugenichtse des Maschinenzeitalters«. Walter Höllerer wiederum kann als der erste deutsche Literaturwissenschaftler gelten, der sich mit der amerikanischen Beatliteratur auseinandergesetzt hat. In einem ausführlichen Essay über die »Junge amerikanische Literatur« widmete er sich 1959 – bereits wenige Monate bevor »Unterwegs« erschien – den Beatautoren aus den USA und machte bei ihnen Parallelen zur »Menschheitsdämmerungsphase der zwanziger Jahre« aus – ein deutlicher Verweis auf die einflussreiche Expressionismus-Anthologie von Kurt Pinthus aus dem Jahr 1919. Eichendorff und Expressionismus – damit lieferten bereits die frühen Reaktionen auf diese Literatur den kulturellen Hintergrund, für die Rezeption in West-Deutschland: Die US-amerikanische Beatliteratur und die Undergroundliteratur wurden selbst von wohlwollenden Stimmen wie Blöcker und Höllerer in einen Vergleich mit dem bildungsbürgerlichen Kanon gedrängt und mussten sich in manchen Fällen gegen den Vorwurf wehren, selbst lediglich eine Literatur von amerikanischen Halbstarken zu sein – fast food für die Jugend. Auf der anderen Seite fand diese Literatur einen großen Widerhall vor allem unter jungen Männern, von denen sich einige selbst als ambitionierte Schriftsteller sahen. Für sie waren Romane wie die von Kerouac und Burroughs und die Gedichte von Ginsberg, Gregory Corso oder Lawrence Ferlinghetti der frische Wind, der den Staub der Schreibstuben von Autoren wie Günter Grass und Martin Walser aufwirbelte und wegblies. »[S]pontan, direkt und hemmungslos« sei die Prosa von Kerouac gewesen, äußert Ploog noch Jahrzehnte später in einem Interview mit seinem Bekannten und Kollegen Hadayatullah Hübsch. Auch Fauser kann sich noch zwanzig Jahre später daran erinnern, wie sehr ihn die erste Lektüre von »On The Road« beeindruckt hatte: »Hier gab es Bewegung, Farbe, Rhythmus, Rausch«, und er betont vor allem auch den vorbildhaften Charakter: »Wir lasen Jack K, zogen los, entdeckten die Straßen, beatific, entdeckten vielleicht sogar uns«. Die Beatliteratur ist in diesem Fall ähnlich wie der Rock’n’Roll – oder die Filme mit James Dean und Marlon Brando – das Mittel zur Flucht junger Männer aus dem kulturellen Mief der westdeutschen Wirtschaftswunderjahre. Irgendwo in diesem manchmal diffusen Bereich zwischen bürgerlichem Literaturkanon, Aufbruch aus den Wirtschaftswunderjahren und Einflüssen amerikanischer Alternativkultur entstand in den Sechzigerjahren in Westdeutschland etwas, das man als eine deutsche Beat- und Undergroundliteratur bezeichnen könnte. Könnte, denn an dieser Stelle fangen die Schwierigkeiten an. Folgt man nämlich einer Aussage von Jürgen Ploog, der ohne weiteres als einer der größten deutschsprachigen Kenner und Repräsentanten der Beatliteratur und insbesondere von William S. Burroughs gelten kann, dann kann jemand, der nicht in den USA aufgewachsen ist und bestimmte Erfahrungen gemacht hat, gar kein Beatliterat sein: »Ich habe die literarische Herangehensweise zwar übernommen, soweit ich es konnte, aber das Lebensgefühl bekommt man nur, wenn man eine Zeitlang an der Lower Eastside gelebt hat, und das habe ich nicht. Ein Lebensgefühl entsteht nur durch Erfahrung. Es geht darum, wie oft jemand auf die Schnauze gefallen ist, was es bedeutet, wieder hochzukommen. Es geht um die Begegnung mit dem Tod oder der Liebe oder darum, wie sich jemand verhält, wenn er eins in die Fresse kriegt. Das prägt die Sicht auf Welt und auf Menschen.« Aber etwas entwickelte sich da in den Jahren um 1968 auch in der Literatur der Bundesrepublik, das direkt anschloss an die Prosa, die Lyrik und die Textexperimente, die seit Ende der Fünfzigerjahre über den Atlantik kamen und die dort unter dem Stichwort Beatliteratur verhandelt wurden – teilweise sehr zum Unmut der Schriftsteller und Schriftstellerinnen selbst. Es liegt also nahe auch für diese deutschsprachige Literatur den Begriff der Beatliteratur zu verwenden, weil auf diese Weise unweigerlich die relevanten Bezüge offengelegt werden. Um zu verstehen, was damals in Deutschland entstanden ist, ist es zunächst wichtig, sich darüber im Klaren zu sein, was Beatliteratur eigentlich ist oder sein soll, warum man von einer Beat- und einer Undergroundliteratur sprechen kann.