Leseprobe
Flecken
Als Walter Höllerer Anfang der 1950er Jahre Hans Werner Richter erstmals besuchte, um in die damals schon ziemlich bekannt und exklusiv gewordene Gruppe 47 aufgenommen zu werden, gewann er ihn mit seinem Lachen. War es dröhnend, war es schallend? Nein, es war eine »Lache« von großer Eindringlichkeit und Durchschlagskraft, der man sich nicht entziehen konnte. »In dieser Zeit wurde in der ›Gruppe 47‹ viel gelacht, auch im kritischen Gespräch, und wenn alle im Chor lachten, hörte ich seine Lache noch immer heraus«, erinnerte sich Richter.1
Ein schief in der Gegend stehender Vogel, der sich aus Bayern
nach Preußen verflogen hatte, lachte, daß den Bäumen im März schon
die Knospen sprangen, lachte mit Echo und notfalls die Linden frühzeitig gelb,
rief Günter Grass seinem Freund am Grabe nach.2 Walter Höllerer lachte.
Er wurde mit einem Kauz verglichen.
Er hatte ein Gesicht, das hielt man für urwüchsig und graue Augen, die trotz des vielen und lauten Lachens als traurig beschrieben werden konnten
Walter Höllerer wirkte sympathisch,
notierte Hubert Fichte ein paar Jahre vor seinem eigenen Tod im letzten Band seiner »Geschichte der Empfindlichkeit«.3
Mit dem Lachen ging ein unglaublicher Erfolg einher. Richter sagte, Höllerer verfügte über ein »Behörden-Sex-Appeal«, mit dem er alles erreichte, was er wollte.4 Er war also ein ›Macher‹, ein
›Veränderer‹ – und er wollte hoch hinaus. Heute gilt er gar als
»Erfinder des Literaturbetriebs«.5 Von ihm gingen Neuerungen aus, die das literarische Leben seiner Zeit aufwirbelten. Einiges wurde legendär, anderes wurde vergessen. Aber vieles, was Höllerer machte, steht noch immer in einer Verbindung mit dem, was heutzutage die Gegenwartsliteratur und die moderne Literaturvermittlung ausmacht. Eine, die ihn damals erlebte und später Dozentin für kreatives Schreiben wurde, beschreibt sein aufwirbelndes Wirken so: »Als Walter Höllerer im Oktober 1959, gerade mal 36 Jahre alt, als Ordinarius der Germanistik an die Technische Universität Berlin berufen wurde, initiierte er - kaum in Berlin angekommen - eine Lesereihe mit dem programmatischen Titel:
›Literatur im technischen Zeitalter‹. Die Veranstaltung wurde ein Riesenerfolg: Studenten aus allen Berliner Hochschulen – Ost wie West – strömten in den Hörsaal 3010 der TU, um Max Frisch, Ingeborg Bachmann, Günter Grass, Hans Magnus Enzensberger und Uwe Johnson lesen zu hören, zu erleben, mit ihnen zu diskutieren. Das hatte es bis dahin nicht gegeben!
Wer war Höllerer, dass er über solche Kontakte verfügte? Dreifach prädisponiert für diese Rolle als Dozent, als Autor und als Herausgeber, wurde er für viele angehende und etablierte Autoren eine charismatische Bezugsperson. Dank seines Talents zur Kommunikation und seiner Leidenschaft fürs Aufspüren geglückter Texte spann er ein Netz von Verbindungen – nicht nur nach Italien, Frankreich, England, auch in die USA, deren ›Beat Poets‹ ihn begeisterten, dann nach Skandinavien und Osteuropa. Öffentliche Wirkung hatte er bereits als Lyriker erlangt, als der ›Spiegel‹ ihn mit seinem ersten Gedichtband ›Der andere Gast‹ (1952) in die vorderste Reihe der jungen deutschen Lyriker stellte, gleich neben Ingeborg Bachmann und Paul Celan. Als Herausgeber war Höllerer für viele das Tor in die Öffentlichkeit; in der Literaturzeitschrift ›Akzente‹ fokussierten er und Hans Bender seit 1954 die innovativen Strömungen der deutschen – und weltweiten – Literatur, um ihr gegenüber den restaurativen Tendenzen in der Nachkriegsliteratur Gewicht zu verschaffen. Zudem hatte er mit ›Transit. Lyrikbuch der Jahrhundertmitte‹ (1956) eine Anthologie herausgegeben, in der Gedichte bekannter Dichter ›demokratisch‹ neben Erstlingsgedichten standen: Ohne unmittelbaren Hinweis auf den Autor mussten die Leser sich selbst mit dem Text auseinandersetzen. Auch dies ein Novum.
Als Organisator kultureller Veranstaltungen im Berlin der 60er Jahre erntete Höllerer euphorischen Zuspruch, Respekt und – Häme. Doch der Respekt überwog. Höllerer überzeugte durch das, was ihm gelang. Erfolg macht erfolgreich. Jahr um Jahr rief er eine neue Veranstaltungsreihe ins Leben. Im Wintersemester 1960 lasen bereits 16 deutsche Autoren in der Lesereihe ›Literatur im technischen Zeitalter‹. In den Zeitungen hieß es: ›Endlich ist in Berlin wieder ein Magnet wirksam geworden, ein Mann, der Literaten an sich zu binden, der sich zu assoziieren versteht ... neben den etwa 700 Menschen, die nun, und sei es über den Lautsprecher, an dem geistigen Aufruhr im Hörsaal 3010 teilnehmen dürfen, gibt es Hunderte, die ohne Eintrittskarte enttäuscht nach Hause gehen müssen ...‹ Literatur ist zum öffentlichen Ereignis geworden, das Massen anzieht. 1961/62, nach dem Mauerbau, füllt die Veranstaltungsreihe den großen Saal der Kongresshalle mit 1500 Plätzen. Höllerer hat nun international eingeladen: Henry Miller, Eugène Ionesco, Nathalie Sarraute, Angus Wilson, John Dos Passos, Slawomir Mrozek. Fünfzehn Autoren und Autorinnen insgesamt und deren Übersetzer, die jeweils nach der Lesung mit dem Moderator Höllerer in einen Dialog treten. Das Fernsehen überträgt die gesamte Veranstaltung bundesweit.
Und nicht nur der Literatur ebnete Höllerer via TV den Weg in deutsche Wohnzimmer. Mit ›Moderne Theater auf kleinen Bühnen‹ hielt 1964/65 auch das Theater Einzug in die Kongresshalle. Das Living Theatre aus New York, Peter Brook aus London kamen, das Prager Theater, acht experimentelle Inszenierungen, die – auch durch die Fernsehübertragungen – Berlin zur kulturellen Drehscheibe machten. Auf das Theater folgt die Reihe ›Veränderungen im Film‹. Acht Veranstaltungen, wieder ausverkauft. Aus Paris reist Alain Robbe-Grillet an, aus Prag Miloš Forman, aus Rom Pier Paolo Pasolini. Gelegentlich muss die Polizei den Andrang des vorwiegend studentischen Publikums kanalisieren. Berlin brodelt. Es ist nicht mehr lange bis zum Besuch des Schahs im Juni 1967.
Im Winter 66/67 wird Walter Höllerer den Anstoß für die Reihe: ›Ein Gedicht und sein Autor‹ geben. Es überrascht kaum, dass gerade die Lyrik ein Publikumsmagnet wird, hat Höllerer doch der Darbietung einen neuen Akzent verpasst: Die Autoren lesen nicht nur ihre Gedichte, sie geben auch ein poetologisches Statement ab, zudem agieren sie, jeder mit seinem Übersetzer, als Duo auf der Bühne. Dank Höllerers kluger Moderation geraten Unterschiede nicht zur Konfrontation, sondern zu Begegnung. So an dem Abend, an dem Lawrence Ferlinghetti, Galionsfigur der amerikanischen Beat Poetry, und Andrej Wosnessenskij, der junge russische Lyrik-Star, sich treffen: Ost und West, mitten im Kalten Krieg, und das in Berlin. Höllerers explosives Lachen löst Spannungen, lenkt die Energien in den Austausch, in das gemeinsame Gespräch über Sprache, grenzübergreifend.«6
Das Umschlagfoto dieses Bandes zeigt Höllerer im Herbst 1958 auf der Überfahrt von Amerika zurück nach Europa; genauer: von New York, der Stadt, die schon bald zum neuen Zentrum der globalisierten Literatur werden sollte, über Amsterdam nach Paris, der alten literarischen »Hauptstadt des XIX. Jahrhunderts«.7 Er hatte am 2. Internationalen Komparatistenkongress an der Universität Chapel Hill in North Carolina teilgenommen – jener Kongress, auf dem es zu einer großen Kontroverse gekommen war: Die amerikanischen Komparatisten kritisierten die bislang tonangebenden französischen Kollegen mit ihrer positivistischen, auf historische Einflussforschung abzielenden Grundhaltung. Besonders der tschechisch-amerikanische Kollege René Wellek hatte von einer Krise des Fachs gesprochen und sich für eine neue Komparatistik ausgesprochen. Sie sollte die Grenzen der nationalen Literaturen überschreiten und zugleich zur dichten Textanalyse zurückkehren. Die Methode hierzu sollten Stilvergleiche sein, die die literarischen Werke im Spannungsfeld zwischen ihrer geschichtlichen Situation und ihrer ästhetischen Eigenlogik verorten.8 Das schwebte auch Höllerer vor, als er über die deutschsprachige Lyrik der Jahrhundertwende von Trakl bis Grass in ihrer Verbindung zur modernen englischen und französischen Literatur sprach: eine allgemeine, kritische und philologisch vergleichende Literaturwissenschaft.9 Den Ansatzpunkt dazu hatte ihm schon sein eigener akademischer Lehrer mit auf den Weg gegeben: Form und Gehalt des Wortkunstwerks können nur wechselseitig, als sich bedingende Einheit in der dichtenden Form erfasst werden, hatte dieser immer wieder gesagt.10 Man solle das Werk formal interpretieren, es nach dem ihm innewohnenden »Movens« befragen.11 Aber wie genau? Hier musste man sich noch weiter vortasten.
Aber gerade war er auf Deck der Fähre »New Amsterdam« und machte mit seinem kleinen Fotoapparat Bilder: von der Skyline New Yorks, die sich im Dunst entfernte, von den anderen Schiffen, die neben ihm in Konstellationen, wie in einem Geleitzug, fuhren.
»Wir stehen auf Deck unseres Schiffes, ringsum ist Nebel, aber plötzlich reißt der Nebel auf und wir sehen die glitzernde Fläche, ein anderes Schiff, Küstenlinien.«12
Die Momentaufnahme stammt nicht von der Fotografin Renate von Mangoldt, die Höllerer erst einige Jahre später kennenlernte und heiratete. Mangoldt hatte die vielen bekannten Fotos von ihm und anderen Autoren gemacht, zum Beispiel das legendäre
»Welcome Gruppe 47«-Foto in Princeton oder die berühmte
»Stuhlreihe«-Serie, die zum Markenzeichen der »LCB-Editionen« wurde. Die Aufnahme vom Schiffsdeck stammt von Maria BosseSporleder: eine am Ende des Kriegs aus Reval nach Kanada emigrierte Deutschbaltin, die unglücklich an einer Dissertation saß und den frisch habilitierten, charismatischen und vor Ideen sprühenden Lyriker, Literaturwissenschaftler und »Akzente«-Herausgeber auf dem Kongress in Chapel Hill kennengelernt hatte. Höllerer, der nicht gerade gut Englisch konnte, ernannte sie kurzerhand zur Fremdenführerin und zur idealen Übersetzerin für die mit Gregory Corso, dem er kurz zuvor in Frankfurt begegnet war, geplante Anthologie »Junge amerikanische Lyrik«. Bosse-Sporleder begleitete ihn also bei seinen literarischen Erkundungen erst in New York, dann in Paris, wo sie noch zwei weitere, heute vielleicht ikonisch zu nennende Aufnahmen machte: Höllerer mit Gregory Corso vor einem Pariser Tabac-Café, Höllerer auf dem Notre-Dame-Turm unter einer Chimären-Figur, auf die Stadt schauend und vor dem inneren Auge den Plan zum »Vogel Roc«-Buch.13 In Paris hatte er, einmal zusammen mit Günter Grass, der in dieser Zeit auch hier lebte und an seinem »Blechtrommel«Roman schrieb, das legendäre »Beat Hotel« besucht. Auf engstem Raum wohnten hier Allen Ginsberg, Peter Orlovsky, William F. Burroughs, Gregory Corso und zeitweilig auch Jack Kerouac zusammen.
Momentaufnahmen hatten für Höllerer eine besondere Bedeutung. Es gibt keine Aufnahme, auf der Höllerer weint – das wäre in unserem Kulturkreis auch sehr ungewöhnlich. Aber es gibt, insbesondere aus der späteren Zeit seines Lebens, mehrere Bilder mit einem traurig-nachdenklichen Blick, einer Eule gleich. Bekannt ist ein Vorfall, der vielleicht eine ähnliche Funktion wie das Weinen hatte: Im Frühjahr 1968 versagten ihm im Auditorium Maximum die Stimmbänder, vermutlich in Folge einer Überarbeitung und Erschöpfung, heute würde man wohl sagen: eines Burnouts. Sein Hausarzt riet ihm: »Wenn Sie Ihre Stimme wiederfinden wollen, dann gehen Sie durch die Wälder, und rufen Sie, wenn irgend möglich laut, ›Werda?‹«14 – »Niemand« war bekanntlich die Antwort des listigen Odysseus auf die Frage des Kyklopen Polyphem, mit der er seinem Gefangenenschicksal auf der Insel entkam. Für Adorno und Horkheimer war Odysseus eine Schlüsselfigur in der »Dialektik der Aufklärung«, die für das überlebende bürgerliche Individuum stand. »Niemand« war aber nicht die Antwort Höllerers. Seine Antwort auf die immer wieder neu gestellte Frage »Werda?« bestand in Positionsund Situationsbestimmungen des Einzelnen in der Konfrontation mit den Systemen der Welt, die manchmal bis in den Kosmos reichten. Die literarischen Positionsund Situationsbestimmungen waren für ihn gleichsam geografischkartografischer Art: Ihnen gingen ›Ortungen‹ voraus: ›Echos‹ von Punkten, die sich verbinden ließen, wodurch sich schemenhafte Landschaftslinien abzeichneten. Es waren Konturen, in denen er viel übersah – im doppelten Sinne des Wortes. Diese Art der literarischen Peilung diente ihm aber als Indiz: als Anhaltspunkt zur Orientierung und als Ausgangspunkt, um weiterzugehen.
Die geografisch-kartografische Selbstverortung, die Anhaltspunkte und zugleich Leerstellen in sich verändernden Landschaften markierte, war nicht zu trennen von einer Selbstinszenierung und einer »Ästhetik der Verstellung«.15 In Rollenspielen fand Höllerer schon früh eine Verhaltensweise, die ihm durchs Leben half. Ihm, dem Komödien lieber waren als Tragödien,16 war Molières Kunst, eine lachende Maske vor sich herzutragen, eine Lebensmaxime, die er auch bei vielen Autoren als Schreibverfahren wiedererkannte. Die lachende Maske diente ihm als Schutzschild, der ihn durch die Zeit führte – durch die 1950er Jahre und 1960er Jahre mit ihren falschen Pathos-Formeln und Wohlstandsversprechungen, durch die späten 1960er und 1970er Jahre mit ihrem Systemdenken und ihren schablonenhaften Sprachen. Doch spätestens seit den 1980er Jahren, nach einem lebensbedrohlichen Verkehrsunfall in Zürich, legte Höllerer die lachende Maske ab. Er äußerte immer häufiger scharfe Gesellschaftskritik und zeigte zugleich eine traurige Nachdenklichkeit über Irrwege: allgemeine Irrwege der westlichen Zivilisation mit ihrem Fortschritts-, Technikund Konsumglauben, ihren Zerstörungen der inneren und äußeren Natur der Menschen, aber auch eigene Irrwege und Illusionen im Literaturbetrieb. Er, der in Zeiten des Kalten Kriegs stets für die ›freie Welt‹, für die grenzüberschreitende Kommunikation der Künste, für ihr schöpferisches Potenzial eintrat, war zunehmend sensibel für die Uniformierung der Sprachund Denkmuster, für die Ökonomisierung des privaten und öffentlichen Lebens, die auch vor kreativen Bereichen nicht Halt machte. Er, der stets für geistige Beweglichkeit und das Dialogische eintrat, erkannte die kulturellen Anpassungen, die bürokratischen Erstarrungen, die sich auf das zwischenmenschliche Zusammenleben auswirkten und auch zu Umweltund Naturzerstörungen führten. Am Ende sah er uns alle in einer »Vergiftungslandschaft«17 der fortgesetzten Moderne ausgesetzt.
In seiner in den frühen 1950er Jahren verfassten Habilitationsschrift schrieb Höllerer über das »Lachen und Weinen in der Dichtung einer Übergangszeit«. Damit war der Übergang von der Klassik zur Moderne gemeint: eine Moderne, die für ihn in der deutschen Literatur bereits mit Jean Paul und Heinrich Heine begonnen hatte. Was diese Übergangszeit in der Literaturgeschichte prägte, war der Zerfall des Idealismus hin zu neuen, modernen Formen angesichts einer immer drängender werdenden Wirklichkeit. Den übergreifenden Bildbereich »Lachen und Weinen«, der ihn über lange Zeit begleitete, entlehnte Höllerer von Helmuth Plessner. Für Plessner, den philosophischen Anthropologen, waren Lachen und Weinen von besonderer Bedeutung, da sie Einblicke in die »Grenzen menschlichen Verhaltens« geben. Hier zeigten sich sprachlose, nicht-rationale und sinnbezogene menschliche Körperreaktionen in geistigen Krisenmomenten.18
Einige Fotos von Renate von Mangoldt machten Höllerer betroffen, weniger der Motive als ihrer Atmosphäre wegen: »Wie dunkel sie manchmal sind.. Licht, Schattierungen die zugleich auch seelische Zustände signalisieren.. [...] Bilder die direkt auf mein Nervensystem wirken und nicht erst über den Umweg über die Ratio.«19 Eine fotografisch festgehaltene Bildersprache stand auch im Zentrum seines eigenen Schreibens. Dessen Fluchtpunkt war die Übereinstimmung des Schreibrhythmus mit der eigenen Körpersprache, so »daß man seinen persönlichen Rhythmus, selbst in ein Metrum einbringen kann, der das Metrum anders bewertet mit anderen Kola, mit anderen Staupausen zwischendrinnen. Diese Kunst geht dann schon in die Richtung der Stilisierung eines fotographischen Bildes.. [...] Ich fotographier ja auch. Ich fotographier nur Farbbilder, um etwas festzuhalten.«20
Das fotografische Bild in literarischer Gestalt lässt sich als kartografische Momentaufnahme der gegenwärtigen Welt verstehen. Die Technik der Momentaufnahme, die später in der Popliteratur, etwa in Rolf Dieter Brinkmanns lyrischer Snapshot-Technik, zentral wurde, verband sich bei Höllerer mit der ihrerseits bereits medial vermittelten Poetik der klassischen Moderne. Vor allem James Joyces Epiphanie-Theorie und Ezra Pounds Verständnis der Dichtung als Darstellung korrespondierender innerer und äußerer Landschaften waren für ihn von Bedeutung. Das sprachlichliterarische Sehen von Landschaftskonturen bildete ein Grundelement seines Schreibens; es war in Ausschnitten eingebunden in ein gestisches Fixieren von plötzlich sichtbaren Punkten, die man bislang übersehen hatte, weil sie Leerstellen oder Pausen im Rhythmus der Sondierung darstellten. Die aus Sorge vor dem Übersehen und zugleich im Streben nach Übersicht fokussierten Anhaltspunkte korrespondierten wiederum mit einem ImageBegriff Ezra Pounds, der mit dem heutigen Image-Begriff eines Autors nichts zu tun hatte:
»Ein image ist etwas, das einen intellektuellen und emotionalen Komplex innerhalb eines Augenblicks darstellt ... Die Darstellung eines solchen Komplexes innerhalb eines Augenblicks erzeugt ein Gefühl plötzlicher Befreiung aus zeitlichen und räumlichen Schranken, ein Gefühl jähen Wachsens, wie wir es vor den größten Kunstwerken erleben.«21
Höllerers Poetik der bildsprachlichen Momentaufnahme ist schließlich mit dem Begriff der »Flecken« verbunden. Auch er ist zunächst geografisch-kartografisch zu verstehen als kleine, aber lokal bedeutsame Ansiedlungspunkte: Orientierungspunkte in einer ansonsten bislang unerschlossenen oder grundsätzlich undurchsichtigen Landschaft in ihrer Gegenwart. Die zur Lagebestimmung dienenden »Flecken« tauchten schon früh auf. So sollte das Buch über den »Vogel Roc«, das er 1957 konzipierte und zum Entstehungskontext seines Romans »Die Elephantenuhr« gehört, »ein Buch aus Weltflecken« sein, das »Bausteine zu einer Topographie des Gegenwärtigen« liefert.22 Einen zentralen Stellenwert erhielt dann der »Flecken«-Begriff in dem Gedichtband »Systeme. Neue Gedichte« (1969), den Höllerer einmal als seinen wichtigsten bezeichnete.23 »Flecken« ist hier der Titel eines Gedicht-Zyklus’, den der Klappentext besonders hervorhebt:
»›Flecken‹ sind kurze, beinahe willkürlich scheinende Notationen aus den Randgebieten des Sichtbaren: ›Sätze vorm Aufwachen‹, ›Übersehenes, das keinen Namen bekam‹, ›Fortsetzungsschatten eines abgerissenen Bilds‹. Oder: ›Inkrustationen in einem halben Vers‹: Eingesprengte Fremdkörper in den Systemablauf, systemverweigernd.«24
Die zunächst geografisch-kartografisch, schließlich imagologisch zu verstehenden »Flecken« sind vergleichbar mit dem, was Roland Barthes später in seinem Fotografie-Buch »Die helle Kammer« als »punctum« bezeichnete. Barthes, dessen früher Aufsatz über die »Probleme des literarischen Realismus« 1956 im »Akzente«-Heft mit dem Schwerpunkt »Der Schriftsteller vor der Realität« erschienen war,25 verstand das »punctum« in einer gegensätzlichen Beziehung zum »studium«: Während das »studium« der Bild-Intension entspricht und zum Bereich der Neigung gehört (»to like« – »not to like«), bringt das »punctum« das »studium« aus dem Gleichgewicht; »denn punctum, das meint auch: Stich, kleines Loch, kleiner Fleck, kleiner Schnitt – und: Wurf der Würfel. Das punctum einer Photographie, das ist jenes Zufällige an ihr, das mich besticht (mich aber auch verwundet, trifft).«26
Das »punctum«, der Wurf der Würfel, den bereits Stéphane Mallarmé im »Coup de dés«-Gedicht zum poetischen Prinzip der Moderne erhoben hatte, kann blitzartig auftauchen und dabei die gewohnte Weltsicht verletzen. Daraus leitet sich die Punktierung als ein das »studium« unterbrechendes, rhythmisierendes Verfahren ab. Bei Höllerers Orientierung an der sprachlichen Momentaufnahme handelt es sich also um eine lyrische Produktionsästhetik, die für die Modernisierung der Literatur in den 1950er Jahren immer wichtiger wurde. Der neue, prozessual gedachte Werkbegriff hat aber auch Auswirkungen auf den Leser, der die textuelle Punktierung – wie beim Notenlesen – interpretieren und im Leseakt nachvollziehen muss. Für diesen Vorgang hatten Roland Barthes und die Tel Quel-Gruppe später die beiden korrespondierenden Begriffe der »écriture« und der »lecture« entwickelt.
Schließlich hängt mit dem sowohl geografisch-kartografischen als auch musikalisch-rhythmischen Begriff der punktierten »Flecken« Höllerers Leitbegriff der »Epiphanien« zusammen. Hier bezog er sich immer wieder auf James Joyce: Für Joyce war die »Epiphanie« ein poetologisches Bauprinzip, dem Höllerer in einem längeren Aufsatz – »Die Epiphanie als Held des Romans« - nachging. Die Epiphanien sind Momentaufnahmen sinnlicher Erfahrungen und zugleich sprachliche Erscheinungen. Auch hier geht es um die »Registrierung der Oberfläche durch die Sinne«,27 um einen »vorgestellten Moment, der die einzelne Wahrnehmung von einem anvisierten Ganzen her aufleuchten, ›strahlen‹ lässt.«28
Joyces modern-episches Schreibverfahren der Momentaufnahmen im »Ulysses«, die von unscheinbaren Alltagsgegenständen ausgehen und die Gestalt literarisch-eigenzeitlicher und -eigengesetzlicher Visionen annehmen, waren zentrale Ausgangspunkte für Höllerers Theorie und Praxis einer auch nach dem Krieg fortgesetzten modernen Literatur. Die literarische Momentaufnahme, die ihr Objektiv ganz auf die Oberfläche der Erscheinungen und ihre Ästhetik der Jetzt-Momente ausrichtet, wurde zu einem zentralen Bauprinzip im französischen Nouveau Roman, im Neuen Realismus der Kölner Schule rund um Dieter Wellershoff, in Rolf Dieter Brinkmanns erweiterter Snapshot-Poetik wie »Standfotos« (1969), »Westwärts 1 & 2« (1975), »Rom – Blicke« (1979) bis hin zu Durs Grünbeins Gedichtzyklus »Glipses and Glances« in »Grauzone morgens« (1988). Letzterer verweist wiederum auf William Carlos Williams, der mit Ezra Pound einer der wichtigsten Vertreter der amerikanischen Moderne war – eine amerikanisch geprägte Traditionslinie, die bereits für Höllerer maßgeblich war.
Das Schreibprinzip der »Momentaufnahme« und »Gegenwärtigkeit«, das plötzliche »Erscheinen« von unscheinbaren Alltagsgegenständen und -situationen in einer neuen, literarischen Lichtgestalt, wurde auch für die nachfolgenden Gegenwartsliteraturen maßgeblich. Sie lösten aber ihre ›Epiphanien des Alltags‹ von der form-orientierten klassischen Moderne und münzten sie zur ästhetischen Qualität einer präsentischen Literatur um – einer Gegenwartsliteratur, die in einer ›breiten Gegenwart‹ des Nebeneinanders, wie sie Hans Ulrich Gumbrecht emphatisch bestimmt hat, situiert ist.29 Hier müssen sich die temporären Epiphanien des Alltags und ihre literarischen Verzauberungen in einer permanenten ästhetischen und ökonomischen Konkurrenz behaupten. In der Ökonomie der Aufmerksamkeit sind Aufleuchten und Verschwinden ihr Schicksal. Dagegen verbanden sich Höllerers Epiphanien der Moderne, die »Flecken«, die ein Irritationsund Widerstandsmoment innerhalb der gleichmachenden »Systeme« der breiten Gegenwart in sich tragen, mit einer Zwiespältigkeit, die im weiteren Sinne auf eine Dialektik der Aufklärung und auf ein ambivalentes Verhältnis zum »technischen Zeitalter« verweisen. Er sah die Fremdbestimmungen, die mit der »Bewusstseins-Industrie« (Hans Magnus Enzensberger) einhergingen, aber auch die sich damit eröffnenden Möglichkeiten, die er kreativ nutzen wollte. So übersetzte er die Poetik der Epiphanien der Moderne auch in neue Veranstaltungsformen und Institutionen.30
»Sie sind ein strahlender Mensch. Ich möchte nach den dunklen Ecken fragen, die Sie überstrahlen, die Sie vielleicht überstrahlen wollen.«31
»Aber wir sind hier, um zu versuchen eine Zoologie des deutschen Literaturbetriebs zu entwerfen.«32