Beschreibung
Jazz übte eine eminente kulturelle Wirkung auf zahlreiche Sphären der neuen Öffentlichkeit Deutschlands nach der Befreiung 1945 aus und wurde zum Ausdruck eines komplexen Zeit- und Lebensgefühls, das weit über Liebhaberkreise hinaus Einfluss auch auf Literatur und Film, Debatten und Diskurse genommen hat.
Das Buch zeigt in konzisen Lektüren der unterschiedlichsten Zeugnisse – von Fan-Zines und Leserbriefen über Essays und Sachliteratur, Romane, Hörspiele und Filme bis zu Zeitschriften wie "twen" oder mündlichen Überlieferungen aus der "Exi"-Jugendszene –, in welchem Maß Jazz durch seine enge Verknüpfung mit der radikal kritischen, dabei zugleich 'zurückgenommenen' Haltung des amerikanischen Cool gegenkulturelle Virulenz zum restaurativen Geist der Adenauer-Ära entfaltet hat. Zugleich wird deutlich, dass diese Virulenz durch die besonderen Bedingungen im Westdeutschland der Nachkriegsjahre spezifisch aufgerufen wurde. Zu diesen gerade an diesem Ort relevanten, letztlich unvermeidlichen Bedeutungsfeldern gerieten vor allem die Frage nach dem Rassismus, die Frage nach der nationalen 'Identität' und schließlich die Revision des Verhältnisses von Ethik und Ästhetik durch eine radikale Ausdruckskultur.
Jazz wird erkennbar als genuiner Ausdruck eines zutiefst skeptischen Lebensgefühls – bis die charakteristische Haltung des Cool durch die des lautstarken und aktivistischen Protestes einschließlich der sie begleitenden neuen musikalischen Soundtracks abgelöst wurde.
Inhaltsverzeichnis
ein vordem nie gekanntes Hochgefühl. Einführung
Im Frühjahr 1945 – Cool – Gegenkultur – Zeitfenster 1945–1969
I. Kampf um Selbstbestimmung – 1945–1950
- Warum hüllt ihr euch sonst in Schweigen? Die Hot Clubs nach der Befreiung (1945–1947)
Jazz während des NS-Regimes – Frankfurter Anfänge – Hypotheken des NS-Rassismus – Exklusivität und politische Abstinenz – Olaf Hudtwalckers Intervention
- Das deutsche Ohr verlangt die Melodie. Die "Hör zu!"-Kampagne von 1947/48
Der Auftakt – Steigerung und erste Verteidigungsrede – Eine Gegenpolemik – und weitere Reaktionen – Das Einlenken der Sendeanstalt – Die Bilanz
- klarinettenhart. Wolfgang Borcherts "Das ist unser Manifest" (1947)
Borchert im Nachkrieg – Funktion der Härte
... bleibt aber hochanständig. Rudolf Jugerts Musikfilm "Hallo, Fräulein -!" (1949)
Der Film – Marketing, Publikumsaufnahme, Pressestimmen – Eine besondere Wortmeldung
- Je ordnungsloser die Zeit, desto notwendiger der Rhythmus. Joachim-Ernst Berendts "Der Jazz – Eine zeitkritische Studie" (1950)
Ideologischer Wiederaufbau in den Westzonen – Berendts Epochendiagnose – Kulturkonservative Ausrichtung mit gegenläufigen Einschlüssen – Zeitgenössisches Echo und jüngere Lektüren
II. Durchbruch in die Diskurse – 1951–1954
- another people's struggle for freedom. Sidney Finkelsteins "Jazz" (1951)
Eine marxistische Jazz-Geschichte – Kampf gegen den Rassismus – Im westdeutschen Kulturbetrieb
- Solidarität der weißen Rasse. Wolfgang Koeppens "Tauben im Gras" (1951)
Ein Tag in Deutschland/ Germany – Jazz in "Tauben im Gras" – Körperlichkeit und 'Rasse' – Aufnahme in Westdeutschland
- falsche Liquidation der Kunst. Adorno im "Merkur" (1953)
Die Initiative Hans Paeschkes – Adornos Auseinandersetzung mit dem Jazz 1933–1936 – Adornos "Merkur"-Beitrag – Ware contra Widerständigkeit – Berendts Antwort – Adornos Erwiderung – Was 'blieb'
- Für alle. Joachim Ernst Berendts "das jazzbuch" (1953)
Angriff auf das Bildungsprivileg – Erfahrung des 'Echten', ihre Gefahren und Rezepte zu ihrer Einhegung – Deutsche Reaktionen und internationales Echo
- sehen, was wirklich geschieht, wenn Jazz geschieht. Joachim Ernst Berendts "Jazz optisch" (1954)
Die Entwicklung der Jazzfotografie bis Anfang der 1950er Jahre – Der "ideale Helfer": Berendts Einsetzung der Jazzfotografie in Westdeutschland – Bürgerliche Respektabilität und Durchscheinen der Gefährdung – Reaktionen und Wirkungen
III. Höhenkamm und Underground – 1958–1959
- meilenweit von allem Menschlichen entfernt. Louis Malles "Fahrstuhl zum Schafott" (1958)
Die Pariser Konstellation – Der Film – Französische Stimmen, Aufnahme in Deutschland
- um beginnender Schamlosigkeit zu begegnen. Günter Grass' "Die Blechtrommel" (1959)
Günter Grass in der Düsseldorfer Jazz-Szene – Oskar der Jazzmusiker – Weltruhm und deutsche Diskussion
- brennen, brennen, brennen. Jack Kerouacs "Unterwegs" (1959)
Das Gerücht von der "Beat Generation" – Bebop in "Unterwegs" – Die Aufspaltung der Rezeption
IV. Zwischen Zeitgeist und Mode – 1958–1960
- einfach rauh. Alfred Anderschs Funk-Collage "Der Tod des James Dean" (1959)
Zeitzeichen, eingesprengt – Kenny Clarke und Charles de Gaulle – "Vorm Einsatz des Sprechers Musik kurz wegnehmen"
- Das war praktisch der erste Ausweg. Die Exis
Jugend 1958 – "Paris" in der Kleinen Bockenheimer und anderswo – Einhegungsversuche und Resistenz – Ende und Erbe
- Bitte geben Sie nicht zu viel Geld aus. Die Zeitschrift "twen" (1959)
Die Wende zum Kommerz – "TWEN Hamburg Bummel": Was man in Jazzkellern trägt
V. Aus- und Nachklänge
- Private Befindlichkeit. Fritz Rudolf Fries' "Der Weg nach Oobliadooh" (1966)
"Are you listenin'?" – Leipziger Cool 1957 – Die konservative Kritik; zwischen Reaktion und Kaltem Krieg – Die neue Kritik von links
- bestand aber plötzlich / auf Albert Ayler. Friedrich Christian Delius' "Die Zukunft der Schönheit" (1966/2018)
Eine Nacht in der Lower East Side
- die in Wahrheit progressive Klasse. Deutsche Reaktionen auf LeRoi Jones' "Blues People" (1969)
Ein amerikanischer Klassiker – Die deutsche Rezeption
Literaturverzeichnis
Bildnachweis
Dank
Register
Rezensionen
"Braese begibt sich auf literarische Spurensuche und analysiert die öffentlichen Diskussionen über diese neue, von deutschen Traditionalisten meist nur mit 'Quäken, Jaulen und Grunzen' verbundene 'Tanzmusik'. (...) Darüber hinaus ist das Buch auch eine wichtige Studie über die Gegenkultur zum offen zur Schau getragenen Rassismus in Nachkriegsdeutschland, der die frühen Diskussionen um den Jazz auf der Grundlage nationalsozialistischer Lehren noch erstaunlich lange prägte."
Rhein-Neckar-Zeitung, 20.4.2024
"Ein außerordentlich materialreicher und analytischer Beitrag zur Kulturgeschichte der noch jungen Bundesrepublik."
neue musikzeitung – nmz, 10/2024
"ein Buch über eine Kultur, die sich zwischen Untergrund und 'kommerziellen Verlockungen' (so die Formulierung in einem zeitgenössischen Jazzbuch) bewegte. Nicht nur Musik macht diese Kultur aus, sondern zu ihr gehören auch Literatur, Film, Fotografie, Zeitschriften, Kleidung und Habitus im weitesten Sinn. (...)
Wo bleibt das widerständige Potential des Jazz, vor allem wenn man ihn in erster Linie als 'schwarze Musik' auffasst? Wo es aufblitzt, erfasst es Braese in seinen ausführlichen Analysen, zu denen immer auch Darstellungen der Rezeption in der deutschen Öffentlichkeit gehören. Das Buch ist überaus quellengesättigt (...)
Man kann zwar hier und da Zweifel anmelden, etwa dahingehend, was die Maiwiesen-Episode in der 'Blechtrommel', in der Oskar die NSDASP-Marschierer aus dem Tritt bringt, indem er erst einen Walzer, dann einen Charleston trommelt, mit Jazz zu tun hat, aber das wäre allzu kleinlich. Die Deutung ist überzeugend. 'Eine dem Jazz gleichsam immanente Opposition gegen alles Militärische, gegen das ihm innewohnende repressive Körperregime (...) wird in ein einprägsames Bild verwandelt, das dem Jazz geradezu eine Entmachtungskapazität einschreibt' (...)
Wegen der Fülle an zitierten Quellen und an aufschlussreichem Bildmaterial ist das Buch eine Fundgrube."
Günter Rinke, literaturkritik.de, August 2024
"Jazz war nach dem Zweiten Weltkrieg der Klang von Freiheit und sicher auch ein Symbol für den 'American Way of Life', für Demokratie und Modernität. Viele Schriftsteller haben darüber geschrieben, was der Jazz ihnen damals und überhaupt bedeutet.
Man sieht es am Jazz tatsächlich, wie stark die Nazi-Ideologie weiterwirkte. Man sprach da von 'Dschungel-Musik' und 'Urwald-Getröte' – der Autor bringt da einige eklatante Beispiele. Kaum glaublich ...
Literatur und Filme spielen eine große Rolle und zeigen, was der Jazz in der frühen BRD auslöste, z. B. Wolfgang Koeppens 'Tauben im Gras' oder Günter Grass' 'Die Blechtrommel'. Hochinteressant ist eine Debatte zwischen Joachim-Ernst Berendt, einem jungen Jazz-Enthusiasten, und Theodor W. Adorno Anfang der 1950er Jahre in der Zeitschrift 'Merkur'. Berendt war ein Propagandist des neuen Jazz, Adorno registrierte nicht, dass parallel schon der Bebop anfing, Jazz zur Kunstmusik zu machen. Genau das wollte Berendt Adorno klarmachen: dass etwas Neues beginnt."
Helmut Böttiger, DLF Kultur, 23.5.2024
"sehr ansprechend aufgemacht (...)
Das Kapitel über Miles Davis und die 'Fahrstuhl zum Schafott'-Musik, das sich wunderbar liest, ist so etwas wie Braeses Königskapitel, von Davis' Haltung in dieser Zeit leitet der Autor seine Thesen ab (...)
(...) ein Kapitel, für das man den Autor nur loben kann: Er weist ausführlich auf den phantastischen Roman 'Der Weg nach Oobliadooh' von Fritz Rudolf Fries hin, einem DDR-Schriftsteller, der dieses Buch 1966 nur im Westen veröffentlichen konnte. Fries steht bei Braese für die 'Coolness des Ostens'."
Helmut Böttiger in Jazz Podium 8-9/2024
"Stephan Braese untersucht, mit welchen Argumenten und in welchem Ausmaß zwischen 1945 und den frühen 1960er-Jahren in der Bundesrepublik dem Jazz die Qualität einer 'Gegenkultur' zugeschrieben wurde. Die Studie basiert auf einer beeindruckend großen Menge an Primär- und Sekundärliteratur. (...) Braese betrachtet nicht weniger als 19 Fallbeispiele, an denen er untersucht, inwieweit Jazz 'als Gegenkultur' figurierte, wobei sich die Frage ihres Verhältnisses zum Mainstream als ebenso fruchtbar wie problematisch erweist. Über weite Strecken erzeugen die elaborierten, theoretisch reflektierten und die Quellen fein sezierenden Überlegungen des Autors einen argumentativen Sog, dem man sich gern hingibt. (...) Die Überzeugungskraft des Bandes resultiert daraus, dass er die verbreitete Annahme, Jazz sei in den 1950er-Jahren selbstverständlich 'Gegenkultur' gewesen, von vornherein konterkariert und stattdessen jeweils näher untersucht, inwieweit ihm diese Qualität appliziert wurde."
Detlef Siegfried, H-Soz-Kult, 25.9.2024
"'Wir wollen eine melodiöse Musik', lautet einer der empörten Angriffe gegen den Jazz im Nachkriegsdeutschland der späten 1940er Jahre. Gleichzeitig war Jazz für viele die Befreiung von einer gescheiterten Hochkultur und mörderischem Rassismus, die kulturelle Alternative zu allem Bisherigen. Kaum etwas wurde in Deutschland (und nicht nur hier), von den 40er bis in die 60er Jahre, so ambivalent rezipiert wie der Jazz – wie das neues Buch des deutschen Literaturwissenschafters Stephan Braese eindrucksvoll schildert. Allen Jazzinteressierten und all jenen, die neugierig sind auf verblüffende Verwicklungen zwischen Musik und Politik, auch zwischen Moral und Ästhetik, sei dieses Buch wärmstens empfohlen."
Hans-Georg Nicklaus, ORF, Ö1