Beschreibung
Inmitten der Turbulenzen der Weimarer Zeit setzte sich Leo Kestenberg (1882–1962) für ein fast utopisches Ziel ein: Menschenbildung durch Musik.
Die Welle der Revolution trug den Sozialisten und Busoni-Schüler Kestenberg 1918 ins preußische Kultusministerium. Inspiriert von der Hoffnung, dass sich eine Erneuerung des Musiklebens im Zuge gesellschaftlich-kultureller Veränderungen ermöglichen lässt, wollte er "Volksbildung" und Neue Musik miteinander verbinden. Er konnte erreichen, dass Franz Schreker, Ferruccio Busoni, Arnold Schönberg und Paul Hindemith nach Berlin berufen wurden, unterstützte einen jungen Komponisten wie Ernst Krenek und gilt als Spiritus Rector der Kroll-Oper unter Otto Klemperer. Angesichts immer neuer Krisen mündete der Aufbruch der frühen Zwanzigerjahre jedoch notgedrungen in eine Politik der Bewahrung.
Heute gilt Kestenberg, der 1933 nach Prag floh und später in Israel lebte, in erster Linie als ein Repräsentant der Musikpädagogik. Dieses Buch behandelt dagegen seine weitgreifenden kulturreformerischen Ideen und die kulturpolitische Dimension seines Wirkens.
Inhaltsverzeichnis
Einleitung
I Vorgeschichte
Zwischen Arbeiterbewegung und "hoher Kunst": Der junge Kestenberg
II Weimars Musikreform – Idee und Wirklichkeit
1 Das demokratische Preußen und die politischen Voraussetzungen der Musikreform
2 "Kultus, Kunst, Kestenberg": Kestenbergs Position und Programm
3 Kestenberg und das Berlin der Zwanzigerjahre
4 "Musik über den Völkern. Volksmusik": Kestenberg und der Nationalgedanke
III Schwerpunkte der Reform
1 Volksoper: Die Volksbühne, die Kroll-Oper und Klemperer
2 Musikhochschule. Die Reform der Ausbildung und die Berufungen von Schreker, Busoni, Schönberg und Hindemith
3 "Kunst und Technik": Musikalische Experimente in den Anfängen des Rundfunks und Tonfilms
IV Kestenberg und seine Weggefährten
1 Kritik des Musiklebens: Kestenberg und Bekker
2 "Pestalozzi-Gedanken": Kestenberg und Schünemann
3 Bayreuths republikanische Antipoden: Kestenberg und die Beidlers
V Nachgeschichte
Kestenberg in Israel und die deutsche Nachkriegszeit
Anhang
1 Entlegene Veröffentlichungen Kestenbergs
a) "Arbeiterschaft und neue Musik", 1929
b) "Arbeitergesang und Volksbildung", 1931
c) "Bekenntnis zu Kokoschka", 1931
2 Bemerkungen zum Forschungs- und Diskussionsstand
Zeittafel
Nachwort
Quellen- und Literaturverzeichnis
Personenregister
Rezensionen
"Dass Kestenberg nicht allein auf seine bis heute wirksamen musikpädagogischen Reformideen zu reduzieren ist, arbeitet die biographische Annäherung an einen der wirkmächtigsten Kulturpolitiker der Weimarer Republik materialreich heraus, der Schreker, Busoni, Schönberg und Hindemith nach Berlin holte und breite Bevölkerungsschichten einer anspruchsvollen Musikkultur zuführen wollte – zugleich eine sehr spannende Kultµr- und Ideengeschichte dieser turbulenten Zeit."
neue musikzeitung – nmz, 4/2024
"Dass sich Kestenbergs Wirken nicht nur auf die Reform der Musiklehrerausbildung beschränkte, vielmehr Kestenbergs Einfluss vielfältige Facetten hatte, dies zeigt eindrucksvoll Schenks Buchs. (...) Das Buch entpuppt sich als fesselnder Überblick über die Musikverhältnisse der Weimarer Republik, wenn auch weniger in werkgeschichtlicher als in sozialgeschichtlicher Akzentuierung. Das reich bebilderte und sorgfältig lektorierte und edierte Buch vermittelt gewissermaßen unterhalb der Großereignisse und großen Namen einen Eindruck von der Vielfalt der musikalischen Strömungen und (administrativen) Herausforderungen, räumt zudem mit manchen Klischees von den turbulenten 20er Jahren auf, die eben auch Krisenjahre waren. Insofern liegt ein Buch vor, dem man nur viele Leserinnen und Leser wünschen kann."
Ullrich Scheideler, Forum Musikbibliothek, 3/2024
"Der deutsch-israelische Pianist, Pädagoge und Kulturpolitiker Leo Kestenberg ebnete den Weg für die musikalische Bildung, die heute verteidigt werden muss. [...] Dietmar Schenks Buch ist die Frucht einer jahrzehntelangen Beschäftigung. 'Kestenberg-Briefe sind mir zum ersten Mal 1992 hier in Berlin bei einem Trödler begegnet', erinnert sich Schenk. Es war Kestenbergs Briefwechsel mit dem einstigen Rektor der Berliner Musikhochschule Georg Schünemann. Im Verlauf dieser Korrespondenz fällt auch Kestenbergs Formulierung, die für den modernen deutschen Musikunterricht programmatisch wurde: 'Erziehung zur Menschlichkeit mit und durch Musik'."
Berliner Morgenpost, 27.7.2024
"Dietmar Schenks 440-seitiges Buch taucht über die Figur Leo Kestenberg detailreich ins kulturelle Leben der Weimarer Republik ein – und wird dadurch auch für Kestenberg-Neulinge interessant. [...] Musikerziehung und musikalische Bildung für Alle und Jeden verfügbar zu machen, das war damals nicht das Anliegen eines Einzelnen, sondern ein gesellschaftliches Anliegen. Als unverzichtbarer Teil einer funktionierenden Demokratie. Das ist es, woran man sich heute genau erinnern sollte."
SWR Kultur, 7.8.2024
"Kestenbergs vielfältiges Wirken lebt bis heute fort. Der jüngste Forschungsbeitrag stammt von dem Historiker Dietmar Schenk, der Kestenbergs Rolle als angeblicher 'Musikdiktator' einerseits relativiert, anderseits den Blick weitet, etwa auf die Beziehungen zum Kreis um den Verlag Cassirer, dem unter anderen die Schauspielerin Tilla Durieux, die Dichterin Else Lasker-Schüler und die bildenden Künstler Ernst Barlach und Oskar Kokoschka angehörten. Vorgesetzte, Mitarbeiter und Weggefährten werden gewürdigt, unter diesen der Schweizer Wagner-Enkel Franz Beidler und seine Frau, auch Vorträge und Publikationen Kestenbergs bezieht Schenk in seine Studie ein. Über Kestenbergs Privatleben erfährt man wenig – klare Konturen erhält Kestenberg hingegen als Kulturpolitiker. In heutiger Terminologie würde man ihn wohl als unermüdlichen und charismatischen Netzwerker bezeichnen."
NZZ, 5.2.2024
"Nachdem in den vergangenen Jahren nach und nach Kestenbergs 'Gesammelte Schriften' erschienen sind, hat jetzt der Berliner Historiker und Archivar Dietmar Schenk Kestenbergs wichtigste Jahre als Kulturpolitiker in der Weimarer Republik in aller denkbaren Breite vorgestellt."
nmz – neue musikzeitung, 9/2024